Der Spengler-Walter oder „wo die Gewitter so hinkommen.“

 

Mut und Tapferkeit waren seine Sache nicht, aber dafür war er in Worten stark. Seine Aufschneiderei war so ungeheuerlich, dass selbst dem bescheidensten Gemüt spätestens nach zehn Minuten klar wurde, dass er hier einen gelehrigen Untertanen des Lügenbarons von Münchhausen vor sich hatte, der dem Kanonenkugeltouristen um nichts, aber auch um gar nichts nachstand.

Gelernt hatte er Spengler und seine Aufgabe bestand in der Hauptsache darin, Dachrinnen an Häusern zu montieren und zu reparieren, ebenso Traufbleche zu setzen und vielleicht auch einmal Schneegitter.

Er kam meist im Gefolge der Dachdecker und es gab fast immer irgendwo etwas für ihn zu tun.

Abends, nach getaner Arbeit, kehrte er regelmäßig in jenem Gasthaus ein, das die letzte Station vor dem heimatlichen Schornstein für ihn war. Von dort hatte er noch knapp drei Kilometer zu Fuß oder mit dem Rad bis nach Hause; allerdings auf einem einsamen Waldweg, der – je später es wurde – kaum mehr von anderen Passanten genutzt wurde.

 

So wichtig es für den Walter eingedenk seiner Ängste auch war, möglichst noch bei Tageslicht sein Haus zu erreichen, so schwer konnte er sich auch vom Wirtshaustresen trennen. Wer den ganzen Tag über einer heißen Lötlampe hängt, braucht schon eine Menge Flüssigkeit, um den Standardpegel wieder zu erreichen. Nicht zuletzt verspricht auch König Alkohol jenen, die mit Tapferkeit nicht gesegnet sind, ungeahnt kraftvolle Auftritte und Flügel, welche geradezu schwerelos die Angst überwinden!

 

Im Wirtshaus aber erzählte er jedem, der es hören wollte – oder auch nicht - was er doch für ein wackerer Kerl sei; am Bau von allen bewundert wie gefürchtet. Wo er hinlange, wachse so schnell kein Gras mehr und überhaupt: neulich auf der Kirmes habe er fünf jugendliche Randalierer eigenhändig und alleine höchstpersönlich aus dem Zelt geworfen...

Am nächsten Abend waren es schon sieben!

 

Seine Zuhörer – es waren fast immer die gleichen – konnte er mit seinen Geschichten schon lange nicht mehr vom Hocker reißen. Sie belächelten seine allzu durchsichtigen Prahlereien; die meisten der Geschichten hatten sie schon mehrfach gehört – in verschiedenen Variationen.

 

An jenem denkwürdigen Freitagabend im Spätsommer hatte er nicht nur den Wochenausklang etwas heftiger gefeiert sondern auch einige Geschichten zum Besten gegeben, die seinen Thekengenossen wohl allzu geläufig waren.

Sie beschlossen, dass es einmal wieder an der Zeit sei, ihm einen Denkzettel zu verpassen.

 

Während Walter seine letzte Flasche Bier an den Hals setzte und die Wirtin die Striche auf seinem Bierdeckel zählte, verließen vier junge und wenig zimperliche Burschen die Gaststätte. In der Scheune des Gastwirtes fanden sie einen alten Heusack und zwei abgekehrte Reisigbesen; für ihre Zwecke schien dies ausreichend.

 

Sie mussten nicht allzu weit laufen. Walters Heimweg, die einsame Straße durch den Wald war bekannt; sie führte nach gut einem Kilometer über eine steinerne Brücke, die einen kleinen Bach querte. Diesen Teil der Gemarkung nannte man die ‚Brückenhecken‘, nicht zuletzt wegen der Erlen und Buchenhecken, die dort den Bachlauf begrenzten.

 

Walter hatte zwischenzeitlich sein Bündel gepackt. Er griff sich sein altes klapperiges Fahrrad und schob es – etwas schweren Fußes – langsam dem Dorfausgang zu. Hier gab es noch Straßenbeleuchtung, welche die Angstgefühle überstrahlte. Aber am Ortsende war Schluss mit lustig: es wurde finster!

Am Fahren hinderte ihn sowohl der Alkohol, als auch der Umstand, dass die Fahrradbeleuchtung zuletzt am Tage der Auslieferung des Rades noch funktioniert hatte und danach nie mehr. Also war Schieben angesagt.

 

Die Geräusche der Nacht in ländlichen, verkehrsarmen Regionen können schon vielfältig und überraschend sein, auf Walters Gemüt hatten sie wohl immer eine eher einschüchternde Wirkung.

Da half nur eines: Gesang!

Je weiter sich Walter vom Ortsrand entfernte, umso lauter und inbrünstiger sang er. Die ganze Palette der Hits aus der Musikbox seiner Jugendzeit. Von ‚La Paloma‘ bis zum ‚Polenmädchen‘, den ‚Schönen Westerwald‘ nicht zu vergessen....

Er sang, dass es vermutlich Rehe und Füchse erbarmte und sich diese schleunigst aus dem Staube machten. Das erzeugt natürlich wiederum Geräusche, die Walters Ängsten nicht gerade zuträglich waren und die er durch weiteres Anheben der Lautstärke zu überlagern suchte.

 

Die vier Burschen hörten ihn schon auf einen halben Kilometer. Sie hatten genügend Zeit, sich noch ein paar Weidengerten zu schneiden und sich an den Brückenhecken zu verstecken.

 

Walter war gerade an der 2. Strophe von „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ als ihn der Blitz traf.

 

Die Jungen stülpten ihm den Heusack über und droschen mit den Besen und den Gerten unter fürchterlichem Gebrüll auf ihn ein. Er litt Höllenqualen und rannte um sein Leben. Er stürzte in den Bach und befreite sich von dem Heusack und rannte, rannte, rannte ...

 

Die vier Burschen hatten sich längst aus dem Staub gemacht und eine Abkürzung Richtung Gasthaus eingeschlagen. Walter suchte sein Heil ebenfalls in jener Richtung, aus der er eigentlich gekommen war; der Weg nach Hause hätte ihn noch weiter durch dichtes Waldgebiet geführt. Keine sieben Pferde hätten ihn dazu bewegen können.

 

Am (beleuchteten) Ortsrand ‚sammelte‘ er sich etwas. Es konnte nur ein Ziel geben: das Gasthaus. Dort gab es Wärme zum Trocknen der nassen Bekleidung und Schnaps zur Wiedererlangung des seelischen Gleichgewichtes.

 

Die Jungen saßen schon wieder am Tresen als Walter den Gastraum betrat. Er tropfte aus allen Knopflöchern.

Die ganze Gesellschaft war natürlich informiert und versuchte, so unbeteiligt und gelassen wie nur möglich zu sein.

 

„Ja Walter, du bist ja schon wieder da ... und auch noch klatschnass ...“ meinte die resolute Wirtin, die der Situation voll gewachsen war.

 

„Wo kommst du denn her, was war denn los?“

 

„Ich bin an den Brückenhecken in ein furchtbares Gewitter gekommen“ meinte der Walter.

 

„Gewitter? Hier war kein Gewitter ... alles strohtrocken!“

 

Walter: „Tja, wo die Gewitter so hinkommen...“

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